Judentum ist seinem Wesen nach vielstimmig.

In hebräischen Druckausgaben biblischer Büchern und des Talmuds steht ein Kerntext in der Mitte, und um ihn herum sind lauter Kommentare platziert. Das sind Anmerkungen zu sprachlichen Besonderheiten oder theologische Auslegungen oder religionsgesetzliche Erörterungen oder Polemiken verschiedener Art. Sie stammen von Rabbinern und Gelehrten (leider kaum Frauen darunter), die sich mit dem Text in der Mitte auseinandergesetzt haben, über Jahrtausende hinweg. Ihre Kommentare widerspiegeln ihre persönlichen Ansichten, die Zeitumstände, unter denen sie gelebt haben, ihr Bemühen, ein lebendiges Judentum zu gestalten. Ihre Äußerungen säumen den Text, als ob die Verfasser persönlich um einen Tisch säßen und die Trennung von Raum und Zeit aufgehoben wäre. Es gibt dabei nur ein Grundprinzip: Man kann sehr verschiedener Meinung sein, aber die Kommentare der anderen werden nicht ausgelöscht. Doch man kann den eigenen Kommentar dazu schreiben und darin die eigene Sichtweise darlegen. Auf diese Weise ergibt sich ein vielstimmiges, pluralistisches Bild, das viele Nuancen über das Judentum vermittelt.